Zweiter Gesang
„DER TAG ENTWICH, DIE DÄMMERUNG BRACH EIN; SIE NAHM DEN WESEN, DIE AUF ERDEN LEBEN, ALL IHRE MÜHSAL AB – UND ICH ALLEIN HIELT MICH BEREIT, DAS RINGEN ANZUHEBEN MIT WEGESMÜH UND MITLEID: HIERVON SEI GETREULICH EIN ERINNRUNGSBILD GEGEBEN!“
Mit diesen Zeilen eröffnet Dante Alighieri den Zweiten Gesang seiner um 1306 entstandenen epischen Versdichtung „Commedia“, die den Bezugsrahmen für Frank Balves Arbeit „23-29.06. (Zweiter Gesang) 2012“ bildet. Die Reise des Dichters in die Unterwelt nimmt hier ihren Anfang, noch zaudert er, bevor er im Dritten Gesang das Höllentor durchschreiten und sich den leidenden Seelen in der Vorhölle stellen wird. Balve (*1986 in Merzig) bedient sich häufig solcher Vorbilder aus der klassischen Literatur oder bildenden Kunst, die er in eine zeitgenössische Bildsprache übersetzt. Die Göttliche Komödie klingt jedoch nur indirekt in der Installation an, sie bildet gewissermaßen die Keimzelle für die Auseinandersetzung mit dem Stoff.
Eine 3,65 x 2 Meter große Leinwand wird eingefasst von einer Rahmenkonstruktion, die mit Zellstoff überzogen ist und den Raum nach oben abschließt. Sie erinnert an die Laibung eines Portals, vielleicht mit ihrer schwarzen Einfassung auch an den Eingang eines Mausoleums und verlieht der Installation Züge eines architektonischen Elements. In dieser Torkonstruktion klingt ein weiterer historischen Ankerpunkt an: das von Auguste Rodin zwischen 1877 und 1917 entworfene „Höllentor“, eine monumentale Bronzeplastik, die ihrerseits Dantes Beschreibung von Hölle, Fegefeuer und Paradies aufnimmt.
Während Rodin das Leiden des Menschen jedoch figurativ umsetzt und 186 menschliche Figuren in allen erdenklichen Gebärden und Posen der Todesqual abbildet, übersetzt Frank Balve das Thema in die Abstraktion. Die Leinwand ist mit einer dichten All-Over-Struktur von Farbspritzern, -schlieren und -verläufen überzogen, die den dunklen Untergrund nurmehr erahnen lassen. Die Choreographie der Farben beruht nicht auf einer konventionellen Ikonographie, sondern auf einer persönlichen Symbolik, die zwar Assoziationen an das Thema der Höllentorpassage nahelegt, der sich der Betrachter aber intuitiv nähern muss. Bei einer Lesart von links nach rechts entwickelt sich die Palette von helleren Fleischtönen, intensivem Blau und tiefem Blutrot über eine schwarze Passage hin zu zurückgenommeren, kühlen Grün-Blau-Tönen. Obwohl insgesamt ein matter, düsterer Eindruck dominiert, vermittelt der üppige Farbauftrag in seiner Komplexität etwas Rauschhaftes, Orgiastisches, das an die eindringlichen Beschreibungen der Dante‘schen Höllenszenarien wie die apokalyptischen Leidensszenen des Höllentors denken lässt.
In kunsthistorischer Hinsicht scheint Frank Balve zunächst auf die Drip-Paintings des Abstrakten Expressionisten Jackson Pol- lock zu referieren. Allerdings ist seine „Konzeptionelle Malerei“ deutlich vielschichtiger. Für „Zweiter Gesang“ wurden allein 140 Liter Acrylfarbe verwendet, die nur durch einen eigens konstruierten, massiven Holzrahmen getragen werden können. Die Farbe wird zudem nicht mit dem Pinsel aufgebracht, sondern mit bloßen Händen auf die Leinwand geworfen. Auf diese Weise entsteht eine äußerst lebendige Oberfläche, die den Eindruck räumlicher Tiefe vermittelt; die Farbmaterie wird für das Auge gleichsam haptisch erfahrbar. Die unzähligen Schichten, Formen und Verläufe bilden einen psychedelisch anmutenden, visuellen Sog in dem sich das reizüberflutete Auge verliert.
Durch gezielte Mischung der Farbmaterie beeinflusst Frank Balve ihre Flüssigkeit und damit Verlaufsformen sowie Dichte der Farben. Da die Leinwand während des Trocknungsprozesses gedreht wird, entstehen nicht nur vertikale, sondern auch kurze horizontale Verläufe, die die Dominanz der Senkrechten durchbrechen und an Wellenbewegungen oder die Ausschläge eines EKGs erinnern.
Die Arbeit am Bild gerät so auch zu einer Arbeit gegen die Zeit, da der Farbfluss und damit die Bildwerdung im Verlauf des Trocknungsvorgangs mehr und mehr stagniert. Die Zeitlichkeit des Schaffensprozesses ist dem Bild auch in den sich überlagernden Schichten, gleich Sedimentschichten, eingeschrieben. Durch bewusste Fehldosierung des Bindemittels entstehen ins- besondere in den fleischfarbenen Partien Risse, die die darunter liegenden Schichten offenbaren. Sie erinnern an die Krakelüren alter Ölgemälde und werden als sichtbare Manifestation von Alterungsprozessen zu Zeichen der Vergänglichkeit. Nicht zuletzt verortet auch der Titel die Installation in der Zeit: Er nennt neben dem Entstehungsdatum auch den Geburts- und Todestag von Frank Balves Lehrer Norbert Prangenberg, dem die Arbeit gewidmet ist.
Wie schon in seiner 2011 entstandenen raumgreifenden Installation „Erster Gesang“, die 42 Leinwände und 30 Videomonitore umfasst, lotet Frank Balve mit „23-29.06. (Zweiter Gesang) 2012“ überkommene Gattungsgrenzen aus, indem er Elemente aus Malerei, Plastik, Architektur, Installation und Performance verschmilzt. Malerei wird dabei nicht nur als performativer sondern auch als aggressiver Akt verstanden; der Schaffensprozess gerät zum Kampf, zum Kraftakt, zu einem ungestümen Ringen um Bildlichkeit.